Ich kann mich nicht verbürgen, dass diese Geschichte wahr ist, denn ich habe sie von meinem Oheim, bei dessen Erzählungen man nie so recht wusste, was Wahrheit und was Dichtung war. Er hat sie mir vor vielen Jahren erzählt. Wir saßen damals in der Dämmerung zusammen vor dem offenen Kamin und ließen uns wohlig vom offenen Feuer wärmen. Draußen schneite es schon seit Stunden und der Frost klirrte. Vor dem Kamin war es mollig warm. Das flackernde Licht des Kaminfeuers erhellte nur gelegentlich das anheimelnde Dunkel, das uns umsponnen hielt. Es war in den Vorweihnachtstagen, in einer jener Stunden, wo wir Menschen, wie sonst nie, jenem Seltsamen und Zauberhaftem aufgeschlossen sind, wo wir Menschen einen kurzen Blick tun dürfen in die uns sonst verschlossene Zauberwelt des Unirdischen.
Wir sprachen von Holtmanns Ajax, dem Wolfsspitz unseres Dorfwirtes, der das ganze Jahr über seinem Herrn treu und unbestechlich diente, der aber schon seit vielen Jahren an jedem Heiligen Abend seinen Herrn verließ, um am Morgen des ersten Weihnachtstages wieder zurückzukehren - so, als sei nichts geschehen, um wieder ein ganzes Jahr lang seinem Herrn in Treue zu dienen.
Mein Oheim stopfte sich umständlich seine lange Pfeife, setzte sich behaglich in seinem Lehnstuhl zurecht und begann, an das soeben Gesprochene anknüpfend, diese seltsame Geschichte:
«Du kannst Dich nicht mehr entsinnen, Karl, aber Dein Vater, der schon in jungen Jahren sein Augenlicht verlor, hat es mir selbst erzählt und Deine tapfere Mutter hat dazu bestätigend mit dem Kopfe genickt. Damals lebte noch Thilo, Euer Wolfsspitz, ein selten kluges Tier, der beste Kamerad Deines Vaters - neben Deiner Mutter natürlich; übrigens der Urahn von Holtmanns Ajax. Jedes Jahr nun, am Heiligen Abend, in den Stunden zwischen Tag und Nacht, zwischen Licht und Dunkel, wurde Euer sonst so braver Thilo von einer unerklärlichen Unruhe hin und hergetrieben.
An dem Heiligen Abend, von dem ich Dir erzählen will, war Dein Vater im Sessel eingeschlafen, Thilo war schon mehre Male zwischen der Tür und Deinem schlafenden Vater hin und her gelaufen. Nun stupste er Deinem Vater mit seiner feuchten, kalten Nase in die herabhängende, hohle Hand, legte dann die Vorderpfoten auf Deines Vaters Knie und bellte, als wollte er sagen: "Nun wird es aber die höchste Zeit; ich kann nun wirklich nicht mehr länger warten."
Dein Vater erhob sich dann auch sofort und beide verließen das Haus, so, als ob sie einen längst vereinbarten Gang tun wollten. Aber erst viele Jahre später, als Thilo nicht mehr war, hat mir Dein Vater erzählt, was in der Heiligen Nacht, der Nacht der hohen Sterne, geschah. Deiner Mutter muss er es schon eher erzählt haben, denn sie war von einem Einverständnis, das nur Wissende haben.
Noch in der Tür begann Thilo mit menschlichen Worten zu Deinem Vater zu sprechen: "Nun habe ich Dir und den Deinen wieder ein ganzes Jahr lang treu und uneigennützig gedient, Dich die vielen Wege treulich geführt, nun hab auch Du wieder einmal Geduld und lass’ mich einige Stunden mit den Meinen sein."
Du brauchst keineswegs erstaunt zu sein, dass Thilo so sprach, denn in der Nacht der hohen Sterne verstehen ja alle einander, verstehen Tiere sogar die Sprache der Menschen. Ja, in jenen Stunden wissen Hunde mehr als wir Menschen, denen sie ein ganzes Jahr lang stumme Diener waren.
Sich weiter unterhaltend gingen beide in den nahen Wald, Dein Vater wie sehend und Thilo so seltsam frei und beschwingt. Im Walde angekommen, verhielten sie den Schritt. Gleich ihnen waren viele Hunde angekommen, jedoch nur wenige, die ihre blinden Freunde mitgebracht hatten. Ein vielstimmiges Gemurmel erfüllte das die Lichtung. Über den Wipfeln der Bäume stand der Mond und die verschneiten Tannenbäume hatten ihre hellsten Lichter aufgesteckt. Es war unirdisch schön und seltsam anzuschauen. Alles war so herrlich rundum, so voller Lichter, leuchtender Bäume und köstlichen Glanzes.
Nach und nach war eine erwartungsvolle Stille eingetreten. Euer Thilo verließ Deinen Vater, sprang auf einen Baumstumpf und sprach zu den Versammelten:
"Wartet, Ihr meine vergessenen Schwestern und Brüder, auch Euch wird der Frieden Gottes werden. Einmal wird der Zauber von uns fallen und wir werden auferstehen, wie das Königskind im Märchen aus dem hässlichen Entlein auferstanden ist. Dann werden auch wir teilhaben an allem, nicht nur an der Erde, an Speis’ und Trank, an Freud und Leid, sondern auch an dem Himmel, unter dem wir dienen und träumen. Uns Vergessenen wird dereinst Gerechtigkeit werden, wie allen Kreaturen dieser Erde."
Während Thilo noch sprach, ging ein Fuß, ein einzelner, menschlicher Fuß daher.
"Der Mann", sagte Thilo, „dem dieser Fuß gehört, war bös’ in allen Dingen. Er schmachtet bis in alle Ewigkeiten in der Hölle. Nur dieser Fuß ist im Himmel, weil er einmal einem durstigen Kettenhund den Wassernapf näher geschoben hat."
Noch lange währte der seltsame Zauber dieser Nacht. Ehe jedoch die Menschen zu Bett gingen, erstarb der Glanz der gnadenreichen Stunden. So wie sie gekommen, gingen alle wieder heim, ein jeder, ob Mensch, ob Tier, tief ergriffen, den Glanz des Erlebten in den Augen.»
Mein Oheim hatte geendet. Noch lange saßen wir schweigend zwischen Traum und Wirklichkeit. Wie gesagt, ich kann mich für die Wahrheit dieser Geschichte nicht verbürgen. Sollte sie mein Oheim wirklich nur erdacht haben, so wollen wir das, was gut in ihr klingt, trotzdem als Wahrheit nehmen.
Weihnachten im Jahre 2024