Einer der letzten Heimkehrer des Jahres 1955 aus russischer Kriegsgefangenschaft überbrachte uns die Geschichte der kleinen Spitzhündin Nelly, die hier erzählt werden soll:
Ein deutscher Kamerad kam eines Tages mit einem Gefangenentransport aus unserem anderen Lager im Fußmarsch in unser Urallager. Sein Hund, dessen Haltung ihm bisher keine Ärgernisse eingebracht hatte, folgte ihm dabei unbemerkt zwischen den russischen Zivilisten auf den Bürgersteigen mit und legte sich dann 3 Tage und 3 Nächte in die das hochumzäunte Lager umgebenden Kartoffelfelder auf die Lauer. Denn an der Lagerpforte war er rücksichtslos zurückgescheucht worden. Am vierten Morgen fand Nelly eine günstige Gelegenheit: als ein größerer Zug von Pferdefahrzeugen das Lagertor durchquerte, durchbrach sie wie ein geölter Blitz die Postenkette und war plötzlich im deutschen Lager. Sie fand unter den hunderten von Männern sehr schnell ihr Herrchen und wie groß war die Wiedersehensfreude! Die kleine Hündin gewann in aller Kürze die volle Liebe der Insassen und wusste sehr schnell zwischen Deutschen und Russen zu unterscheiden. Sie lernte bald durch lebhaftes Bellen vor der Annäherung von russischen Kontrollabteilungen zu warnen und machte sich dadurch unentbehrlich.
Wenn am Morgen um 6 Uhr die Kolonnen der Gefangenen zur Arbeitsstelle abrückten, wurde rechtzeitig Nelly mit ihrer Tagesverpflegung in einer gut getarnten Erdhöhle versteckt. Sie begriff es vom ersten Tage an, dass sie sich dort lautlos zu verhalten hatte. Wie groß aber war dann die Freude, wenn 12 Stunden später die Verwöhner wieder zurück ins Lager kamen. Ihr Herr befreite sie aus dem Versteck und sie eilte mit Riesensprüngen in die Speisesaalbaracke, setzte sich auf die Hinterläufe und machte "Männchen". Reihum erhielt sie Leckerbissen, denn jeder einzelne versuchte ihr die wenigen Fleischfasern der Suppe zu opfern. Zum Schluss eilte sie zum Koch, der schon ein Schüsselchen bereithielt und einen Nachschlag bewilligte. Dann eilte sie an den Tischen entlang und trug so ihren Teil zur allabendlichen Unterhaltung bei, bis sie mit ihrem Herrn auf der gemeinsam benutzten Pritsche zur Ruhe ging.
Nach 4 Wochen hatte sich Nelly so eng an den Kreis der Männer angeschlossen, dass allgemein beschlossen wurde, sie mit auf die Arbeitsstelle zu nehmen. Sie fand unter der unförmigen, wattierten Jacke ihres Herrchen Platz; bei ihrem geringen Gewicht machte es keine Mühe, sie bei dem täglichen Anmarsch von 7 km zu tragen. Auf dem Arbeitsplatz überließ immer abwechselnd einer der Männer seine schützende Jacke dem Hund, um ihm bei der grimmigen Kälte einen genügenden Schutz zu verschaffen. Allerdings musste dann doppelt so hart gearbeitet werden, um die fehlende Wattejackenwärme auszugleichen. In der wärmeren Jahreszeit saß Nelly zwischen den Männern herum, ohne sich in die Nähe der Posten zu wagen. Selbstverständlich war es dann Ehrenpflicht, bei der Frühstücks- und Mittagspause die Kanten Schwarzbrot mit Nelly zu teilen. Das Wedeln des Schwänzchens oder ein kurzer Lecker über die Hand war die schönste Belohnung für den Spender. "Unser Hunger wurde gestillt durch die Liebe und Treue, die dieser Hund uns bezeugte und die Liebe, die wir ihm schenken konnten."
Schließlich aber kam das Lagerpersonal dahinter, dass der Spitz unter der Kleidung verborgen mit zur Arbeit genommen wurde. Die gesamte Belegschaft wurde daraufhin an jedem Morgen gründlich durchsucht, und es musste ein neuer Trick gefunden werden, um den Hund mitnehmen zu können.
Tausend Mann traten jeden Morgen in einer langen Fünferreihe hinter dem Lagertor an, dann begaben sich je 5 Mann einige Schritte vor zur Untersuchung, hiernach etwa 50 m weiter vor das Lagertor, um sich dort erneut zu sammeln. Nelly befand sich zwischen den Füßen der Männer der zweiten Hälfte. Sie musste auf den Zuruf "Nelly lauf!" nun mit Windeseile aus dieser Abteilung durch die Postenkette und das Lagertor hindurch zu den Untersuchten eilen, um dort von irgendwem aufgenommen und unter der Jacke versteckt zu werden. Es war nun an jedem Morgen das von den Deutschen und dem russischen Bewachungspersonal gleichermaßen erwartete Spannungsmoment, zu welchem Zeitpunkt der Befehl erteilt wurde und ob die kleine Kreatur sich der regelmäßigen Beschießung oder den Wurfgeschossen aus Holz oder Stein entziehen konnte. Dieser Trick gelang monatelang, trotz aller Bemühungen der Russen, den kleinen Schlauberger zu fangen oder zu treffen.
Aber da die armen rechtlosen deutschen Männer nichts besitzen durften, was sie liebten oder verehrten, wurde es eines Tages ernst. Irgendein höherer Bolschewik hatte etwas von dem gewitzten "Hund der Deutschen" vernommen und ordnete den Einsatz der Garnison einschließlich der Bluthunde an.
Der Herr der kleinen Nelly ahnte etwas und wagte an dem Abend nicht mehr, den Hund mit in das Lager zurückzunehmen. Schnell war eine Erdhöhle gebuddelt, der Spitz darin versteckt und ihm beim Weggehen deutlich eingeschärft, diesen Platz nicht zu verlassen. Beruhigt zog die Kolonne danach ab.
Als die Gefangenen am nächsten Morgen den gewohnten Marsch durch die Straßen machten, sahen sie plötzlich auf halbem Weg einen kleinen Hundekopf mit traurigen Augen über den Rand des Straßengrabens auftauchen. Es war Nelly, zu Tode verwundet. Sie starb in den Armen ihres Herrchens, den fast die Verzweiflung erfasste und den nur die Kameraden von einem unbesonnenen Ausbruch gegen den nächsten Posten zurückhalten konnten.
Höhnend gab an der Arbeitsstelle eine Russin Aufklärung über das Vorangegangene. Sie arbeitete als Kranführerin in unmittelbarer Nähe der Deutschen und hatte von der Höhe des Kranturms herab beobachtet, wo der Spitz sein Versteck gefunden hatte. Sie war am Abend zu der Erdhöhle gegangen, um sich dort den Hund zu holen und ihn ihren Kindern mitzunehmen. Aber Nelly ließ sich nicht hervorlocken, ja biss sogar energisch um sich und kniff die Frau einige Male in den Arm. Diese lief daraufhin aus Wut darüber, dass der Hund der Deutschen nichts von einer Russin wissen wollte, kurzerhand zum Lager-Politkommissar und schilderte ihm das Versteck. Dem Kommissar erschien die politische Seite der Angelegenheit derart wichtig, dass er sofort mit seinem Dienstwagen zu dem Hundeversteck fuhr und kurzer Hand aus seiner Pistole einige Schüsse blindlings in die Erdhöhle feuerte. Als sich der Russe entfernt hatte, kam die Hündin grausam verstümmelt aus dem Lager hervor und schleppte sich auf den unverletzten Hinterläufen auf dem ihr vertrauten Wege zum Lager, um dort Schutz bei den ihr Wohlgesinnten zu suchen. Die Kräfte verließen sie aber bald. Auf dem halben Weg brach sie zusammen, lag die ganze Nacht in ihrem Wundbett und wartete bis zum Morgengrauen, bis die graue Kolonne anrückte und ihr Herr sie fand.
Aus der Broschüre "Mein Freund - der Rassehund" von E. Schneider-Leyer, 1956