Wieso die Hunde Wohnungsloser immer so gut erzogen sind
Vor einigen Tagen war ich gerade mit meinen Hunden unterwegs, als uns drei Obdachlose entgegenkamen. Ihnen folgte in Freifolge ein total entspannter schwarzer Hund. Während sich meine Hunde nicht gerade tadellos verhielten, ließ sich dieser Hund überhaupt nicht aus der Ruhe bringen. Diese Szene ging mir dann insofern nicht mehr aus dem Kopf, als daß mir aufgefallen ist, daß die Hunde von Obdachlosen eigentlich irgendwie immer top erzogen sind und sich weit besser verhalten, als die Hunde von uns Normalos. Wieso, habe ich mich gefragt und bin auf die Suche gegangen. Viel Material habe ich nicht gefunden, dennoch möchte ich meine Erkenntnisse hier einmal vorstellen. Vielleicht geht ja dem einen oder anderen ein Lichtlein auf.
Viele der Ansätze über den Umgang der Obdachlosen mit ihren Hunden entstammen der Diplomarbeit von Saskia Moos, die 2011 von ihr erstellt wurde. Weitere Quellen findet man am Ende der Seite, zudem habe ich einfach mit ein paar wohnungslosen Hundebesitzern gesprochen.
Was machen Obdachlose anders?
Daß die Hunde Obdachloser irgendwie super funktionieren, ist scheinbar allgemeingültiger Konsens. So bestätigte im Prinzip mein gesamtes Umfeld meine Beobachtungen. Auch 88% der durch Saskia Moos Befragten gaben auf die Frage, ob sie Angst hätten vor den Hunden von Obdachlosen, ein klares "Nein" an, woraus abzulesen ist, daß meine Beobachtung hinsichtlich dieser Hunde keine Ausnahme bildet, sondern eher die Regel ist - nämlich die, daß Obdachlosenhunde bestens sozialisiert sind.
Wer auf der Straße lebt, hat kaum noch etwas zu verlieren. So am Rande der Gesellschaft macht es keinen Sinn mehr, sich zu verstellen und jemand sein zu wollen, der man nicht ist. Obdachlose sind daher definitiv viel authentischer als der Normalhundehalter. Sie müssen sich nicht verstellen – weil’s ihnen scheißegal ist, was andere über sie denken - dadurch machen sie sich aber dem Hund gegenüber zu einem respektablen Führer. Sind sie schlecht drauf, dann zeigen sie das auch. Stört es sie nicht, daß der Hund Kacke frisst, dann unterbinden sie es auch nicht - im Gegensatz zu uns, die wir ja oft ein bestimmtes Hundeverhalten für unsere Mitmenschen sanktionieren, obwohl es uns im Kern gar nicht stört ("O Gott, was denken die nur, wenn der Hund so kläfft?!?" etc.). Authentizität ist am Ende weit mehr wert, als gute Laune und Freundlichkeit vorzuspielen – denn gespielte Freundlichkeit ist keine Freundlichkeit und wird vom Gegenüber auch als solches erkannt.
Der Hund ist oft der einzige stabile Kontakt und die einzige Konstante im Leben der Obdachlosen, er ist daher sehr wichtig für ihr seelisches Gleichgewicht und vermittelt ihnen zudem ein Gefühl des “Geschütztseins”. Ihr Umgang mit dem Hund ist im Durchschnitt mütterlich, fürsorglich und liebevoll. Die Kommunikation mit dem Hund ist meist klarer und dabei wortkarger, aber umso körperlicher, der Besitzer agiert viel und der Hund muss reagieren. Da die Hunde nicht vermenschlicht werden, sind die Erwartungen Obdachloser an ihre Hunde aus unserer Sicht geringer. Kein Obdachloser ist von seinem Hund enttäuscht, weil der nur den 2. Platz im Agility-Wettbewerb gemacht hat oder sich mal wieder in Fuchskacke gewälzt hat. Somit ist der Hund auch eher in der Lage, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen und kann sich akzeptiert fühlen. 88% der befragten von Saskia Moos befragten Obdachlosen gaben an, dass ihr Hund ihre Erwartungen erfüllt. Die anderen “Normalo”-Befragten waren nur zu 68% mit ihrem Hund zufrieden.
Die Obdachlosen scheinen auch seltener über das Ziel hinaus zu schießen, was Liebe und Zuneigung angeht. Die Hunde werden hundegerecht verwöhnt und nicht mit Futter und schönen Körbchen. Menschen ohne Obdach können sich ein Betüdeln ihres Hundes halt auch einfach nicht leisten. Sie verlassen sich darauf, dass der Hund sich ordentlich verhält, sie beschützt usw. Sie schauen auch nicht andauernd, ob der Hund ihnen folgt, sondern gehen einfach. Hier hat der Hund gelernt, dass er aufpassen muss, wenn er sein “Rudel” nicht verlieren möchte. Sie verhalten sich ergo egoistischer als es der normale Hundehalter seinem Hund gegenüber tut, was ja letztlich dem Verhalten eines Rudelführers viel eher entspricht. Gewalt wird übrigens selten beobachtet, körperliche Begrenzung des Hundes dafür umso häufiger.
Vielen Obdachlosen ist das Wohlergehen und die Gesundheit ihrer Tiere wichtiger als ihr eigenes. Daher bekommt der Hund oft seine Nahrung, noch bevor das Herrchen etwas isst. Durch das ständige Zusammensein und Umherstreifen lernt der Hund anscheinend eher, wo sein Platz im Rudel ist.
Die Hunde der Obdachlosen orientieren sich viel stärker am Halter und halten sich zumeist im Unterordnungsbereich auf – sie laufen hinter ihrem Herrchen in der geschützten Zone, wie in meinem o.g. Beispiel. Das Sexualverhalten der Hunde entwickelt sich dadurch gehemmt, da sich in der Natur nur die ranghöchsten Tiere vermehren dürfen. Es besteht hier also ein Zusammenhang zwischen dem Rang im Rudel und der Sexualität. Bei unseren Hunden ist häufig ein übersteigerter Sexualtrieb zu erkennen, was vermutlich daran liegt, dass der Hund zuviel darf und nur wenige bis keine Grenzen kennt.
Von klein auf werden die Hunde Obdachloser allen Außenreizen ausgesetzt, da sie ja immer mit dabei sind. Daher sind sie oft viel entspannter als unsere Hunde, die zu Hause gelassen werden, weil es halt unbequem ist, mit dem Hund in die Stadt zu gehen.
Die Lebensform der Hunde von Obdachlosen ist qualitativ meist besser. Man ist 24 Stunden pro Tag zusammen. Die Hunde Obdachloser werden also insgesamt artgerechter gehalten: sie sind immer mit ihrem Menschen unterwegs, dürfen Hund sein, sind ständig Teil der Gruppe. Auch nachts schlafen sie direkt bei ihrem Menschen. Sie haben viel Hundekontakt, über den sie selbst entscheiden dürfen. Die Besitzer gaben an, nur zu 38% über den Kontakt zu anderen Hunden zu entscheiden. Die Hunde von Obdachlosen sind auch wesentlich seltener kastriert. Es wird ergo weit weniger in die Natur des Hundes eingegriffen - in allen Belangen. Ihre Hunde haben viele und regelmäßige Kontakte zu Artgenossen. Dies scheint die Sozialisierung und die Bindungsfähigkeit positiv zu beeinflussen. Auch greifen die Obdachlosen seltener in die Rangdispute ihrer Hunde ein, als wir es tun. Sie lassen Rangfragen innerhalb der Hundegruppe eher von den Hunden selbst klären.
Die Hunde werden als Freunde bzw. Kameraden gesehen, ohne vermenschlicht zu werden. Der eine braucht den anderen. Wir brauchen unsere Hunde hingegen oft, um unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen: nach Nähe, nach Gesellschaft, nach einem Grund rauszugehen, nach Ruhm, weil unser Hund der Schönste auf allen Ausstellungen ist usw.
Insgesamt ist die Erziehung der Hunde durch die Obdachlosen natürlicher und nicht so technisch, wie die Hundeerziehung, die wir so kennen. Sie gehen letztlich stärker auf den speziellen Hund ein und kommen ihm nicht mit Schema-F aus dem Hundebuch XYZ. Irgendwie logisch, dass der Erfolg sich da langfristiger und nachhaltiger einstellt, oder? Die Hunde lernen, die Verantwortung für alles abzugeben. Sie folgen Herrchen, wo immer es hingeht, haben viel Bewegung und werden auch mal gemaßregelt, wenn sie Mist verzapfen und haben durch das viele Zusammensein, sowie durch das Teilen des Futters und des Schlafplatzes eine sehr enge Bindung zu ihrem Menschen, auch weil sie voneinander abhängig sind.
Natürliche Erziehung - die Anleitung:
Hier nochmal die Zusammenfassung der aus meinen Quellen herausgelesenen Ansätze:
Gemeinsam essen Man isst immer zusammen, der Hund bekommt sein Futter zuerst, danach speist der Mensch. Diese Vorgehensweise widerspricht so ungefähr jedem Hundebuch, das ich kenne, dennoch ist sie irgendwie nicht von der Hand zu weisen: wer Gehorsam einfordert, muss Schutz bieten. Dazu gehört auch die Versorgung des "Schützlings". Indem man dafür sorgt, dass der Hund immer zuerst zu essen bekommt, manifestiert man seine Rolle als beschützender und versorgender Partner auch aus der Sicht des Hundes. Ich werde das jetzt so umsetzen, dass die Hunde überhaupt nichts mehr zwischendurch bekommen, aber wann immer ich esse, gibt es vorab eine Kleinigkeit für sie.
Rund um die Uhr zusammen sein Man verbringt - sofern möglich - den ganzen Tag miteinander, der Hund kommt immer mit, selbst wenn's nervig wird.
Zusammen schlafen Der Hund schläft im Nahbereich des Menschen, also im gleichen Raum oder auch im Bett, je nach Vorliebe.
Freifolge Eigentlich sollte sich die Mensch-Hund-Beziehung so gestalten, dass der Hund von selbst im geschützten Bereich läuft. Da ich bei meinen Hunden da vermutlich warten kann, bis ich schwarz werde, helfe ich mal nach bringe sie über Korrekturen in die Freifolge. Dass sich die Freifolge auf das gesamte Verhalten auswirkt und auch daheim für deutlich mehr Ruhe sorgt, ist mir aus eigener Erfahrung bekannt.
Klare Kommunikation Die Kommunikation muss klar sein, ohne viel Worte, aber dafür umso körpersprachlicher, so daß Mensch UND Hund sich gegenseitig verstehen. Dennoch muss man als Mensch jetzt nicht zwangsläufig knurren und bellen, denn Hunde leben seit Jahrtausenden an unserer Seite, die verstehen uns auch, wenn wir ganz normal sprechen.
Mit der eigenen Persönlichkeit punkten Der Hund wird viel gelobt, allerdings ausschließlich über die Stimme oder über Streicheleinheiten, nicht über Futter.
Den Hund wieder als das sehen, was er ist Der Hund ist ein Hund, ein Kamerad, ein Freund - jedoch kein Kleinkind - und muss also ein solcher wahrgenommen und behandelt werden.
Kameraden Das Verhältnis ist partnerschaftlich, ohne demokratisch zu sein. Es gibt klare Grenzen, in deren Rahmen sich der Hund frei bewegen kann.
Gesunder Egoismus Einfach mal nicht so oft nach dem Hund gucken. Beim Spazierengehen laufen, ohne sich umzudrehen. Es schadet ihm sicher nicht, wenn er merkt, dass sich die Welt nicht nur um ihn dreht.
Gelöste Konflikte verbinden Konflikte mit dem Hund sollte man lösen, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen, das stärkt die Verbindung. Gegebenenfalls kann man offene Konflikte ja sogar provozieren, um Klarheit zu schaffen.
Freiheit muss sein Exploration im gewissen Rahmen muss zugelassen werden, je mehr man den Hund an sich festkettet, umso stärker wird sein Drang, dem zu entfliehen. Daher sollte man dem Hund auch soviel Freilauf ermöglichen, wie machbar ist.
Bewegung Unsere Hunde brauchen Bewegung, denn Bewegung baut Stress ab und stärkt das Immunsystem. Gemeinsame Bewegung fördert zudem die Hund-Mensch-Beziehung. Ich würde schon sagen, daß sich ein gesunder Hund mindestens 3 x pro Woche mal so richtig rennen dürfen sollte. Ohne Leine. Meiner Meinung nach wirkt sich das auch positiv auf die Erziehung aus, wenn der Hund den Kopf frei hat, weil er eben "ausgelastet" ist.
Hundekontakte Hunde kennenlernen ist erlaubt - sofern beim Gegenüber erwünscht und angemessen. Meine Hunde wollen ja zu jedem Hund (warum ist mir schleierhaft, gefördert habe ich da gar nichts), also werde ich sie jetzt einfach mal zu jedem Hund lassen, der kennengelernt werden kann und darf. Mal gucken....
Keine Hilfsmittel Die Erziehung erfolgt ohne Hilfsmittel - die eigene Persönlichkeit ist das einzig erlaubte Hilfsmittel, mehr braucht es auch nicht. |
Nachtrag
Ich möchte mit meinem Blogartikel das Leben auf der Straße auf gar keinen Fall verherrlichen, denn das ist sicherlich nicht nur Zucker. Garantiert gibt es auch Obdachlose, die ihre Hunde beschissen behandeln, aber meinen Erkenntnissen nach handelt es sich dabei um eine Minderheit, die ich deswegen hier geflissentlich ignorieren werde.
Wie auch immer - fest steht, dass bei uns irgendetwas falsch läuft, wenn selbst dem Alkohol sehr zugeneigte Obdachlose in der Lage sind, ihre Hunde ordentlicher nebenher (!!) zu erziehen (ohne jemals ein Hundebuch gelesen zu haben, geschweige denn eine Hundeschule besucht zu haben), als wir es mit allen Hilfsmitteln und Hundetrainern der Welt je könnten. Mit Erziehung meine ich übrigens "echte" Erziehung, also Sozialerziehung. Ich meine nicht die erzogen wirkenden, würdelosen Klicker-Kreaturen, die Sie nach einer Woche ohne Leckerli mit dem Arsch nicht mehr anschauen. Es muss also auch irgendwie anders gehen. Straßenhunde zum Beispiel kennen ja auch kein "Sitz!" oder "Platz!" und wissen sich zu benehmen.
Wir müssen vor allem erstmal wieder lernen, den Hund als Hund zu sehen und ihn entsprechend artgerecht zu behandeln. Vielleicht liegt ja der Fehler darin, dass man dem Tier zuviel Liebe, Körperlichkeit und Aufmerksamkeit gibt, so dass es letztlich damit völlig überfordert ist. Bei uns wird der Hund ja eher als kindliches Wesen behandelt. Der Hund ist Freund, Kamerad etc., aber weder Kind noch gleichberechtigter Partner. Er braucht Grenzen und einen klaren Rahmen, in welchem er sich frei und artgerecht bewegen darf. Dazu gehören auch Freilauf und der Kontakt zu Artgenossen. Auf diese Art und Weise bietet der Halter seinem Hund Sicherheit, die diesem erst eine Orientierung am Menschen ermöglicht. Wird der Hund als gleichberechtigter Partner demokratisch behandelt und ist damit auch zu eigenen Entscheidungen berechtigt, muss der Hund folglich eine Aufgabe erfüllen, die seine Kompetenzen permanent übersteigt. Denn er trifft dann Entscheidungen, die für IHN in seiner Welt Sinn machen. Das kann ja nur in die Hose gehen!
Gerade beim noch jungen Hund gilt es zu bedenken, daß Erwachsenwerden immer mit Reibung vonstatten geht. Harmonie und Bindung fallen nicht vom Himmel, sondern müssen als solches erarbeitet werden. Anstatt also jugendliche Neugierde und Exploration an sich zu unterdrücken, sollte man sich als Hundehalter darauf freuen, Persönlichkeit zeigen zu können, sich seinem Hund gegenüber als ein “Jemand” zu präsentieren, als ein ernstzunehmendes Gegenüber. Folglich haben Futter und Ball nichts zu suchen innerhalb der Konfliktlösung auf sozialer Ebene. Man sollte seinen Hund lieber ernst nehmen, anstatt ihn wie ein Zirkuspferd mit Zucker zu manipulieren. Und so manchem Hund ist seine Ehre im Angesicht des Todfeindes wesentlich wichtiger als alle Wiener Würstchen der Welt.
Für erfolgreiche Beziehung ist es außerdem notwendig, dass sich beide Beziehungspartner auf gleicher Ebene verständigen können. BEIDE. Kommunikation ausschließlich über Kommandos ist keine wirkliche Kommunikation, denn:
Kommunikation:
man steht beidseitig in Verbindung
Kommando:
einseitig, keine Kommunikation
Auch hier gilt es anzusetzen. Weniger Feldwebel und mehr in sich ruhende Persönlichkeit sein, könnte Wunder wirken. Gerade die Sache mit der Persönlichkeit - also sich so zu zeigen, wie man wirklich ist - scheint mir ein Schlüssel zum Hund zu sein. Denn unsere Hunde sind ja heutzutage keine Jagdhunde mehr oder Hütehunde, sondern zumeist Sozialhunde. Und sie haben den ganzen Tag Zeit, uns zu beobachten und Rückschlüsse daraus zu ziehen. Damit ist der eigene Hund leider auch befähigt, mangelhafte Führungskompetenz bei uns wahrzunehmen oder auch unsere Unfähigkeit, Entscheidungen aus dem Bauch heraus fällen, sowie unsere Entfremdung von der Natur als solche zu erkennen. Daher: Schmeißen Sie Wurfschellen, Halti, Klicker und den ganzen anderen Plunder aus dem Fenster, denn diese Hilfsmittel sind unnütz. Ihr bestes Hilfsmittel ist Ihre Persönlichkeit, mehr braucht es nicht! Ihre Persönlichkeit ist auch das einzige Hilfsmittel, das den meisten Obdachlosen zur Verfügung steht und die Praxis zeigt, daß es funktioniert.
Quellen:
Quellen: Saskia Moos "Die Beziehung zwischen Menschen am Rande der Gesellschaft und ihren Hunden im Vergleich zu anderen Menschen mit Hund"/ Michael Grewe "Hunde brauchen klare Grenzen"/ Günther Bloch "Die Pizza-Hunde" (Auswahl)
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