Der Trend zur Kastration kam - wie sollte es anders sein - aus den USA nach Europa geschwappt. Um die Tierpopulation unter Kontrolle zu halten, dem vermeintlichen Krebsrisiko vorzubeugen und auf Verhalten Einfluss nehmen zu können, meinte man, mit einer Kastration das ultimative Rezept gefunden zu haben. In den USA wird faktisch alles kastriert, was nicht zur Zucht zugelassen werden soll; am liebsten wird dort die Frühkastration im Welpen- oder Junghundealter durchgeführt. Gott sei Dank melden sich mehr und mehr Veterinäre, Verhaltensbiologen, Zoologen und Trainer zu Wort, um endlich auch die Öffentlichkeit über die Gefahren der oft unnötigen Kastrationen von Hunden aufklären.
Bis vor wenigen Jahrzehnten war das Kastrieren nur bei Nationen üblich, welche ihre Hunde schlachteten und aßen. Da die Hunde gemästet werden mussten, bevor man sie zum Verzehr verkaufen konnte, wurden sie kastriert, denn durch die Kastration sinkt der Grundumsatz des Hundes stark und daher neigen Kastraten zur Gewichtszunahme.
Dieser Beitrag richtet sich natürlich nicht an Halter, die ihren Hund aus gesundheitlichen Gründen kastrieren müssen!
Die Kastration
Einen Hund aus Gründen der Verhaltenstherapie zu kastrieren, ist nichts anderes, als einem Hund, der ständig jagen geht, ein Bein abschneiden zu wollen. Aus der Sicht des Gesetzes ist beides nicht erlaubt. Daher sind auch Tierschutz- und Kaufverträge, die die Kastration eines Hundes fordern, als nicht existent zu betrachten. Verträge, die Gesetzesverstöße zum Inhalt haben, sind sittenwidrig und daher ungültig.
Ebenso kategorisch muss eine Kastration vor dem Abklingen der Pubertät - die sogenannte Frühkastration - abgelehnt werden. Gerade während der kritischen Phase der Pubertät wirken die Sexualhormone im Gehirn nicht nur in Bezug auf eine Vorbereitung des zukünftigen Sexualvermögens. Sie nehmen eine ganze Reihe von Aufgaben zur geistigen Reifung wahr, und die Tatsache, dass beispielsweise Hündinnen mit jeder Läufigkeit noch ein Stück weit erwachsener werden, zeigt dies bereits an. Die Östrogene, teilweise aber auch das Testosteron, sind an der Neuverkabelung und Umordnung von Nervenzellen und Nervenfasern im Gehirn an vielen Stellen beteiligt, z.B. in den mit Stressverarbeitung, sozialer Kompetenz und sozialer Intelligenz befassten Hirnregionen.
Die Pubertät ist etwa dann weitestgehend beendet, wenn die Hündinnen ihre dritte Läufigkeit abgeschlossen haben. Sogenannte Frühkastrationen vor dem Ende dieser Zeit zeigen Auswirkungen im Sinne eines permanent kindsköpfigen und planlosen Hundes, eines ewigen Kindes. Von den körperlichen Auswirkungen einer frühen Kastration, z. B. Auswirkungen auf Knochenwachstum, Herz-Kreislauf-System, das grauenhafte Kastratenfell, Inkontinenz etc. wollen wir hier nicht weiter reden.
Exkurs Frühkastration
Eine Frühkastration bedeutet, daß eine der entwicklungswichtigen Hormonquellen entfernt wird. Eine Entfernung dieser BEVOR der Körper und das
Verhalten des Hundes überhaupt ausgereift sind, bevor der Vierbeiner das erste Lebensjahr erreicht. Alarmierend im Zusammenhang der Frühkastration ist die Tatsache, daß sich die
Geschlechtshormone auf die Entwicklung auswirken. Wenn diese Hormone entfernt werden, verknöchern die Wachstumsplatten, die für den richtigen Knochenbau sorgen, nicht richtig. Dadurch
werden Gelenkserkrankungen gefördert.
Durch eine Studie von Benjamin L. Hart konnte anhand eines Datensatzes von 759 Retrievern nachgewiesen werden, daß eine Frühkastration:
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Auch kann es nicht oft genug erwähnt werden: Kastration ist kein Ersatz für Erziehung! Wer seinen unkastrierten Hund nicht unter Kontrolle halten kann, wird dies in der Regel auch bei einem Kastrierten nicht können.
Gerade bei den Verhaltensgründen für die Kastration werden häufig undifferenziert verschiedene Formen und Bedeutungen der Aggression in einen Topf geworfen. Der Glaube, dass man durch Kastration Aggressionen beeinflussen könnte, geht zurück auf die Annahme, daß Aggression grundsätzlich vom Sexualhormon Testosteron gesteuert und mit Rangordnung, Status und der Verteidigung der Sexualpartner einhergeht. Dies ist jedoch in den meisten Fällen nicht gegeben.
Hormone & Co.
Hormon | Wirkung |
Adrenalin | Das Fluchthormon im Organismus; gemeinsam mit dem Noradrenalin bildet es das aktive Stress-System |
Cortisol | Hormon des passiven Stress-Systems; es ist wesentlich für die Ausbildung von Angst, Unsicherheit und Panik verantwortlich |
Dopamin | Freuden-Botenstoff, der für das Glücksempfinden zuständig ist; wirkt selbstbelohnend und als Lerndroge |
Noradrenalin | Das "Kampf-Hormon"; Noradrenalin fördert die Testosteronausschüttung und gehört zum aktiven Stress-System |
Oxytocin |
Bindungs- und Vertrauenshormon; Stressbremse; weibliches Fortpflanzungshormon, zugehörig zum sozialen Netzwerk |
Prolaktin |
Das Eltern-Hormon; verantwortliche für diverse Brutpflegeverhaltensweisen |
Testosteron |
Männliches Sexualhormon; wird als "ich bin der/ die Tollste"-Hormon bei jeder Art von sozialem Erfolg ausgeschüttet |
Vasopressin |
Das Eifersuchtshormon oder Partnerschutzhormon; gehört mit Oxytocin zum sozialen Netzwerk |
So sind beispielsweise angstaggressive Hunde gesteuert vom Stresshormonsystem, zum Beispiel dem passiven Stresshormon Cortisol. Und gerade bei solchen Hunden, die in Angst- und Paniksituationen, bei Kontrollverlust, an der Leine oder in ähnlichen Situationen aggressiv reagieren, ist das Stresshormon Cortisol aus der Nebennierenrinde ursächlich. Testosteron hingegen hemmt die Ausschüttung des Cortisols, es hat also eine angstlösende Wirkung. Man könnte auch sagen: Testosteron macht mutig.
Nimmt man angstaggressiven Hunden die Sexualhormone weg, werden die Tiere noch unsicherer, und das gezeigte Verhalten kann sich verschlimmern. Gerade diese Zusammenhänge lassen die gängige Praxis, Tierheimhunde zu kastrieren, in einem besonders schlechten Licht erscheinen. Allein durch ihre Vorgeschichte und durch die von ihnen mehrfach erduldete Änderung ihrer Lebensumstände sind solche Hunde häufig eher cortisolgesteuert. Tierheimhund- oder Auslandshundinteressenten ist zu raten, sich nicht von den vertraglichen Vereinbarungen, die meist dahingehend lauten, dass der übernommene Hund in einer festgesetzten Frist zu kastrieren ist - was dann auch nachzuweisen ist - nicht einschüchtern zu lassen. Bei einem eventuell entstehenden Streitfall haben solche Klauseln vor Gericht keinen Bestand!
Die gilt noch mehr für Hunde, die als sogenannte "gerettete Straßenhunde" aus anderen Ländern importiert und hier in völlig andere Lebensumstände verpflanzt werden. Gerade bei diesen Hunden ist das letzte bisschen Selbstbewusstsein durch die Sexualhormone oft ein heilsamer Rettungsanker.
Auch die Futterverteidigung oder sogenannte Futteraggression steht unter dem Einfluss von Cortisol.
Ebenfalls bei der Selbstverteidigungsaggression spielen Stresshormone eine Rolle, jedoch sind es hier eher die Stresshormone der Botenstoffe des aktiven Systems, insbesondere das Noradrenalin (auch als Kampfhormon bezeichnet). Durch Noradrenalin wird aggressives Verhalten steigert, gleichzeitig wirkt es als Lernverstärker in anderen Teilen des Gehirns. Hat ein Hund also in einer Furcht einflößenden Situation Aggression als probate Problemlösung einige wenige Male erfahren, so wird dies sehr schnell gelernt und als Problemlöseverhalten für die Zukunft abgespeichert. Als Beispiel wäre hier die Leinenaggression zu nennen. Dieses Lernen durch Erfolge lässt den Hund dann bisweilen wirklich zum Aggressionsjunkie werden, auf den die Wegnahme des Testosterons keinerlei Auswirkungen hat. Diesen Hunden muss man allerdings Sicherheit geben und nicht Testosteron nehmen.
Das Jungtierverteidigungsverhalten bei Rüde und Hündin sowie das Partnerschutzverhalten werden ebenfalls nicht durch die Sexualhormone gesteuert. Daher ist auch hier eine Kastration wirkungslos. Paarbindung bei Hunden ist nicht primär eine sexuelle, sondern eine soziale Bindung. Und so kann auch der kastrierte Rüde seine Halterin völlig ohne jeden sexuellen Hintergedanken heftig verteidigen, was häufig auch passiert.
Was als Dominanzverhalten des Hundes fehlgedeutet wird, ist vielfach etwas ganz anderes. Meist ist nämlich die mangelnde Führungskompetenz des Menschen schuld. Wenn der Mensch seine Leittierrolle nicht erfüllt und Gefahrenerkennung und Gefahrenabwehr, aber auch die Alltagsstrukturierung nicht glaubhaft und zielstrebig erledigen kann, übernimmt der Hund - oftmals eher widerwillig - diese Rolle im Team. Das dies durch Kastration nicht beeinflusst werden kann, ist ohnehin ersichtlich. Und gerade Hunde, die eigentlich diese Leittierrolle gar nicht wollen, werden durch die große Verantwortung eher verunsichert, und damit sind wir wieder im Bereich des Cortisol gesteuerten Stressverhaltens, von dem wir oben bereits gesprochen haben.
Zusammengefasst heißt das: die meisten durch die Kastration zu therapieren versuchten Problematiken haben gar nichts mit den Sexualhormonen zu tun. Weiterhin sind die Sexualhormone wichtig für den Hund, um selbstbewusst und mutig sein Leben zu meistern. Die Wegnahme dieser kann das Verhalten eher verschlimmern als verbessern. Sollte die Kastration trotzdem im Raume stehen, wird in der Regel erstmal ein Probelauf via Implantat gestartet. Das Implantat soll angeblich eine Alternative zur endgültigen Kastration darstellen. Man kann sich also schon mal daran gewöhnen, wie der Hund als Kastrat funktioniert, damit man die Angst vor dieser endgültigen und nie wieder gutzumachenden Verstümmelung verliert. Wenn dann der Chip entfernt wird und der Hund sein Verhalten nicht geändert hat, hat man ja den Beweis dafür, daß die Kastration notwendig ist. Meiner Meinung nach ist das nur Augenwischerei und man wird über den Chip sanft in die endgültige Kastration hineingeschunkelt. Ich wurde definitiv vom Chip abraten, da der Hund dadurch nur mit Hormonen vollgepumpt wird, die er nicht braucht und man gerade beim Junghund eine wichtige Phase seiner Erziehung verpassen würde, wenn man diese Phase mit dem Chip einfach "wegwischt".
Die meisten Kastrationen haben eine Verstümmelung an Leib und Seele zur Folge. Wer einmal einen Frühkastraten genau beobachtet, kann genau erkennen, wie sozial inkompetent diese Tiere mitunter sind. Kinderseelen gefangen im erwachsenen Körper....
Intakte Rüden im Alltag: Das Aufreiten
Viele Hundehalter stört das Aufreiten des Rüden, welches mitunter schon im Welpenalter beginnt. Dies kann zwei Hintergründe haben:
(1.) Es ist sexueller Natur. Hier ist es so, daß sich die Hündin in der Regel ganz gut gegen den aufdringlichen Rüden zur Wehr setzen kann. Das kann auch ruhig mal etwas heftiger aussehen, macht dem Rüden aber nichts aus, ein ordentlicher Rüde kann so eine "Schelle" auch ganz gut wegstecken. Falls er gegenüber einem kastrierten Rüden übergriffig wird, wird dieser sich ebenfalls dagegen zur Wehr setzen. Daß intakte Rüden Kastraten übrigens so gern belästigen, liegt daran, daß kastrierte Rüden für einen anderen Hund so „duften“, wie eine Hündin kurz vor oder zu Beginn der Vorbrunst (das ist die Phase, in der die Hündinnen bluten).
Natürlich muss man seinem Rüden schon die Grenzen aufzeigen und ihn auch mal am Kragen packen und vom Objekt der Begierde herunterziehen, wenn er nicht aufhört. Dies erfordert bei sehr triebigen
Rüden mitunter einiges an Durchsetzungsvermögen, um das zu klären, ist aber absolut kein Grund für eine Kastration! Zudem sollte man sich nicht scheuen - so es sich beim Angebeteten um einen
kastrierten Rüden handelt - den Besitzern des Tieres auch durchaus mal mitzuteilen, daß sie das Aufreiten durch die Kastration ihres Hundes eigentlich selbst verursacht haben. Denn der intakte
Rüde verhält sich vollkommen normal!
(2.) Ein weiterer Grund für ein solches Verhalten kann sein, daß es sich hierbei um Dominanzgehabe handelt. Daran ändert eine Kastration rein gar nichts, denn auch in der Welt der Kastraten gibt es eine Rangordnung, die man klären muss. Ein pubertärer Jungspitzerich ist normalerweise sehr selbstbewusst und gerade in diesem Alter kann es gut sein, daß er sich gern beweisen möchte. Auch hier gilt es durchzugreifen und das Rumgeprolle zu unterbinden.
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